Im weltbesten Netzwerk, dem Texttreff, wurde vor Weihnachten wieder geblogwichtelt. Das heißt: Man schenkt sich gegenseitig Blogbeiträge, die Teilnehmerinnen werden einander zugelost. Meine Blogwichtelgeberin ist Stephanie Esser, die mit ihrem Lektorat Textschliff Texten den nötigen Glanz verleiht. Sie hat mir eine ganz besondere Geschichte geschenkt und erzählt, wie sie durch ein Kinderbuch die Welt des Reisens kennenlernte. Viel Spaß damit und herzlichen Dank, Stephanie!
Als Poosie mir Europa zeigte
Reisen bedeutete in meiner Familie immer Deutschland. Wohin wir auch fuhren sprach man Deutsch, zahlte man in D-Mark und kannte die Produkte in den Supermärkten. Auslandsreisen waren etwas Exotisches, das machten die anderen, aber nicht wir. Als ich acht oder neun war, geriet ich an ein Buch, auf dessen Cover ein Mädchen mit Zöpfen inmitten von Koffern und Kisten bunte Wimpel hochhält. Der Titel: „Poosie in Europa“. Es ist Teil einer Reihe und spielt in den 1950er-Jahren.
Ich konnte kein Englisch und las das Wort so, wie man Poesie ausspricht: Po-osie. Diese Poosie ist eine fast elfjährige amerikanische Diplomatentochter, die mit ihrer Familie für zwei Jahre von Washington nach Frankfurt zieht. Sie lebt im „amerikanischen Viertel“ in einer Wohnung der Bundesregierung und geht auf eine amerikanische Schule. In den Ferien unternimmt sie mit den Eltern Reisen in verschiedene Länder Europas.
Beim Lesen bekam ich zum ersten Mal eine Vorstellung davon, was (Fremd-)Sprache bedeuten kann. Sie kann als Geheimsprache eingesetzt werden: Poosies Eltern benutzen Deutsch immer dann, wenn sie etwas besprechen wollen, das die Tochter nicht hören soll. Pech für Poosie – als sie es endlich besser versteht, schwenken sie auf Französisch um.
Eine fremde Sprache zu lernen bedeutet, den Menschen Respekt zu zollen. So versucht Poosie in jedem Land, das sie besucht, die wichtigsten Wendungen wie „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“, „Wie viel kostet“ zu lernen. Die Menschen freuen sich darüber. Doch eine fremde Sprache zu sprechen kann auch tückisch sein. In Österreich zum Beispiel sagt Poosie „Gulasch“ statt „Grüß Gott“. Alles lacht. Wenn sich die Wörter aber auch so gleich anhören … Um sich nicht noch mal zum Gespött zu machen, bestellt sie von nun an jeden Tag Wiener Schnitzel, denn das Wort kennt sie.
Eine fremde Sprache kann dem Gewohnten aber auch einen neuen, aufregenden Anstrich geben: Als sie nach Berlin reist, lernt Poosie das Mädchen Monika kennen. Die beiden brauchen nicht viele Worte, um sich anzufreunden. Schnell finden sie heraus, dass sie dasselbe Spiel lieben. In Deutschland heißt es „Hopse“, in Amerika „hopscotch“. Von jetzt an sagt Monika nur noch hopscotch und Poosie Hopse.
Als Neunjährige hatte ich wenig Ahnung von der Sprachenvielfalt, die in anderen Ländern herrscht. Poosies Geschichte zeigte mir, dass in der Schweiz drei Sprachen gesprochen werden und sich auch vermischen, etwa beim „Merci vielmals“ in der Deutschschweiz, das nach dem Überqueren der Sprachgrenze zum einfachen „Merci“ und dann bald zum „Grazie“ wird, das aber wiederum nicht mit „Grüezi“ verwechselt werden darf. Auch in Belgien, erfuhr ich beim Lesen, gibt es zwei Sprachen: im Norden Flämisch, im wallonischen Süden Französisch.
Ebenso vielfältig wie die Sprachen waren damals auch die Währungen. Bei ihrer Ankunft in Österreich hat Poosie einen Dollar und fünfundsechzig Cents in der Tasche. Dann wechselt sie das Geld in österreichische Schilling, bei der nächsten Reise in Franken und Rappen (eine Währung trotz drei Sprachen!) und in Italien schließlich in Lire und Centesimi. Wie sehr ich mir wünschte, auch einmal ausländische Scheine und Münzen in der Hand zu halten.
Poosie zeigte mir, auf welch unterschiedliche Weise man reisen kann. Nach Deutschland kam sie mit einem Langstreckenflug, auf den sie mächtig stolz ist. Nach Österreich reist sie im Zug, an ihrem Fenster zieht die Landschaft „bilderbuchbunt“ vorbei, bis die Alpen ins Blickfeld rücken.
Berlin erreicht Poosie sogar im Schlafwagen, ihr Abteil ist „wie ein Schmuckkästchen, wie eine Puppenstube, mit viel Chrom und poliertem Holz und Klappen und Türchen und Schüben und Lampen“. Was hätte ich nicht dafür gegeben, einmal in einem Schlafwagen zu reisen. Man schläft ein, und wenn man aufwacht, ist man wie durch Zauberhand da, wo man hinwill.
Für die Reise in die Schweiz nimmt Poosies Familie das Auto. Ich erfuhr, was es bedeutet, eine Diplomatenlizenz zu besitzen: Man kann sich das lange Anstehen am Grenzübergang sparen, niemand kontrolliert die Koffer, die Zollbeamten sind höflich und zuvorkommend. Die letzte Reise des Buches macht Poosie schließlich auf dem Wasser. Ihre Zeit in Deutschland ist um, die Familie muss zurück nach Washington. In Genua besteigt Poosie das Schiff.
„Die nächste Nacht? Da wird man schaukeln auf dem Mittelmeer. Und die nächste Nacht? Auf dem Atlantik, und etliche Nächte schaukelt man auf dem Golfstrom durch das braungoldene Golfkraut, die sogenannte Sargasso-See, und später wird man an der Ostküste von Nordamerika, an der vertrauten Sommerfrische Nags Head und an dem berüchtigten Cap Hatteras vorbeifahren, ehe man in New York landet, in acht Tagen ungefähr.“
Ich wünschte Poosie gute Fahrt und freute mich auf all die Sprachen, Länder, Währungen und Fortbewegungsmittel, die ich in meinem Leben noch kennenlernen würde.
Ruth Hoffmann: Poosie in Europa; Dressler Verlag, 1954
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6 Kommentare
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Ist das eine liebevolle GEschichte – sie hat mich im Augenblick erreicht – für einen Moment mit worten verwöhnt und innerlich auf reisen geschickt.
DANKE
Mit einem Gruß aus tirol’s Bergen
Daniela
✿◠‿◠)✿….♥
Herrlich, dieser kleine Ausflug in die die kindheit!
Mensch, Stephanie, was ist das denn für eine tolle Geschichte. Da bekam ich sofort Lust diese Bücher auch zu lesen. :)
Welch wunderbare Geschichte, die definitiv Lust aufs lesen des Buches macht
Es ist wirklich eine ganz reizende Geschichte, die ich in all den Jahren nie vergessen habe. Als ich mir das Buch jetzt antiquarisch bestellte, um meine Erinnerungen für den Beitrag aufzufrischen, wurde ich richtig nostalgisch…
Reisen ist nur ein (wenn auch ein wichtiger) Aspekt der Geschichte. Wir erfahren auch viel aus der Nachkriegszeit, so wohnt Poosie in Berlin neben einer häuserruine und gerät in große aufregung, als eine Bombe in der Garage liegt. Der vater ihres österreichischen freundes ist in russischer kriegsgefangenschaft, kehrt aber während des besuchs heim. Welch eine freude. Die haushälterin von poosies familie ist ein böhmischer flüchtling, die mit ihren eigenen händen nach der arbeit für sich und ihren versehrten mann ein haus baut. auf den bahnhöfen gibt es noch gepäckträger …
es macht wirkich spaß, diese geschichte mit der atmodischen sprache und den hübschen filigranen Illustrationen zu lesen. Man erhält das buch noch recht gut antiquarisch.